Die Natur ist nicht tierschutzkonform – aber wir sollten es sein


    Kolumne von Johannes Jenny


    (Bilder: zVg)

    Bilder von Schafen, Ziegen und neu auch von unbeaufsichtigten Kälbern, die von Wölfen gerissen wurden, erschüttern uns und schreien nach sachgerechten Lösungen für die betroffenen Landwirte. Einheimische Raubtiere aller Grössen gehören jedoch zur Natur und erfüllen eine wichtige Rolle. Fleischfresser und Beutetiere passen sich über Jahrzehntausende aneinander an. Sie tun dies auf verschiedenste Weise. Das langfristige und stabilste Instrument ist die genetische Anpassung. Das schnellste Instrument sind erlernte Techniken und Hilfsmittel, wie sie zum Beispiel Delfinen, Krähen, Affen und natürlich dem Menschen zur Verfügung stehen. Keine Art schaffte es in diesem «Schachspiel» zwischen Räuber und Beute derart viele andere Arten matt zu setzen, wie der Mensch. Die Ausgleichssysteme seiner Opfer waren zu oft zu langsam. Dies war bereits in prähistorischer Zeit beim Mammut, beim Riesenhirsch, beim Höhlenbären und anderen Arten der Fall. In historischer Zeit sind der Riesenalk, ein flugunfähiger Vogel mit der Gestalt eines Pinguins, der Auerochse und das Wildpferd prominente Opfer. Das Aussterben einer Art ist natürlich auch für den Beutegreifer ein Verlust, denn diese Arten stehen der Nutzung definitiv nicht mehr zur Verfügung. Daher ist jedes Schachmatt ein Pyrrhussieg. Heute kommt die künstliche Verbreitung der «Allerweltsräuber» aller Kontinente hinzu, welche das Artensterben zusätzlich beschleunigt.
    Einer dieser fremden Räuber ist der aus Nordamerika stammende Waschbär. Ende Januar wurde in Appenzell Innerroden einer geschossen. Ein radikaler Tierschützer verlangte hierauf ein Jagd-Verbot für das herzige Tier. Der Jagd- und Fischereiverwalter des Kantons Appenzell Innerrhoden, Ueli Nef, sagte dagegen gemäss «20 Minuten» zu Recht: «Gerade weil Tiere ein Recht auf Leben haben, hat man den Waschbären in Wasserauen erlegt. Damit schützen wir sehr viel mehr Tierleben, als wenn wir aus radikal fanatischen Gründen ein einzelnes Individuum schützen.»

    Wie wahr! Vor zwei Jahren schickte mir ein Pro Natura Mitglied Bilder von lebenden, grässlich verstümmelten Grasfröschen. Als Urheber konnte ein Waschbär ermittelt werden, der den Tieren bei lebendigem Leibe die Beine abfrass. Doch nur Menschen sind bestialisch, wenn sie lebenden Fröschen die Schenkel abreissen. Auch für das Tierleid des Waschbärs trägt nur der Mensch die Verantwortung. Er hat die Art nach Europa eingeschleppt. Einheimische Arten hatten keine Zeit, sich an den gebietsfremden Allesfresser anzupassen. Da ist es am Menschen so gut es eben geht, den einstigen Fehler auszugleichen.

    Die spontane und verständliche Empörung darf nicht in Fundamentalismus enden. Nur Wissen hilft da weiter. Vor allem das Wissen um unser nach wie vor beschränktes Wissen über die komplexen Vorgänge in der Natur. Dieses muss uns bescheiden und vorsichtig machen. Denn die Auswirkungen unbedachter Eingriffe werden oft erst im Nachhinein erkannt, wenn es zu spät ist. Dies wusste wohl auch Goethe als er in seinen letzten Tagen schrieb: «Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.»

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